
Album der Woche:
Lasst alle Hoffnung fahren: Weihnachten, wie wir es kennen, fällt dieses Jahr aus. Wer jetzt noch keinen Mietwagen reserviert hat, um ohne DB-Ansteckungsgefahr zur Familie zu gelangen, der kriegt bald keinen mehr. FFP2-Maske statt Santa-Rauschebart beim distanzierten Christbaum-Kuscheln. Oh, du trübselige, ungnädige Weihnachtszeit 2020.
Na ja, muss alles gar nicht so schlimm sein, wenn der Feiertagstrubel mal etwas runtergedimmt wird, die Geschenkehektik, das Hopping von Elternteil zu Elternteil. Vielleicht wird es, zwangsbedingt durch die Corona-Pandemie, sogar ein besonders besinnliches Weihnachtsfest, aufs Wesentliche reduziert.
Einen stimmungsvollen, schön molligen Soundtrack für die einsame Heiligabendfahrt durch die Republik liefert jetzt der kanadische Pianist und Allround-Entertainer Chilly Gonzales mit seinem Weihnachtsalbum "A Very Chilly Christmas". Unterkühlt, also chilly, wird es hier allerdings selten. Allerhöchstens durch "Silent Night" weht ein leicht fatalistischer Eishauch, der einen an den nächsten Tresen zum wärmenden Drink drückt. Aber spätestens, wenn "Last Christmas", von seiner oppressiven Pop-Haftigkeit befreit, seine eigentliche, immer schon inhärente Melancholie offenbart und als sehnsüchtig klimpernde "Cheers"-Barmusik endet, taut das Herz auf.
Eine ähnlich sinnliche Dekonstruktion erfährt auch Mariah Careys saisonaler Gassenhauer "All I Want For Christmas Is You": Man spürt, dass Gonzales, immer schon idiosynkratischer Grenzgänger zwischen Klassik und Pop, diese abgegrabbelten Shopping-Mall-Tunes nicht verachtet, sondern in ihrer Essenz liebt – so wie wir alle ja irgendwie auch. Er versucht nicht, sie zu intellektualisieren oder kunsthandwerklich zu verkrampfen, sondern umarmt ihren Kitsch.
Ein paar Freunde hat der zurzeit in Köln lebende Gonzales auch eingeladen, aber nur die engsten, wie es sich in diesen Zeiten gehört: Wenn Leslie Feist sich hingebungsvoll durch "The Banister Bough" croont und flüstert, kommt ein beglückendes Nat-King-Cole-Feeling auf, frostiger wird es, wenn Jarvis Cocker sich bei "In The Bleak Midwinter" als kratzhalsiger Ebenezer Scrooge verdingt. Ein leiser, heiserer Chor vereint dazu die Geister der gegenwärtigen Weihnacht. Sehr rührend ist es, wenn Gonzales, Feist und Cocker zusammen den 2019 verstorbenen Musiker David Berman würdigen – mit einer wundervoll tröstlichen Version seines Purple-Mountains-Songs "Snow Is Falling In Manhattan".
Natürlich ist hier auch schwarzer Humor im Spiel, süffisante Weihnachts-Anarchie. "Jingle Bells" erhält durch das Chilly-Treatment einen durchaus sinisteren "Nightmare Before Christmas"-Touch. Der schwermütige Piano-Jazz von "O Tannenbaum" verweist schon auf das Morgengrauen danach, wenn die ersten Nadeln der Nordmanntanne aufs Parkett rieseln. Beim verkaterten Auffegen hilft dann das dramatische "Maria durch ein Dornwald ging". Seufz.
Zum Schluchzen schön ist aber, ganz am Schluss, die zum Harmonika-Trauermarsch umkomponierte Jahresendhymne "Auld Lang Syne", die hier programmatisch "Auld Lang Mynor" heißt, ein kurzes Lied vom Tod – und ein angemessen bedröppeltes Requiem auf dieses verlorene Jahr. Dank Chilly Gonzales können wir es nun zumindest musikalisch stil- und würdevoll zu Ende bringen. (8.5)
Kurz Abgehört:
Kruder & Dorfmeister – "1995"
Ein guter Witz wäre natürlich, wenn sich die einst global gefeierten Wiener DJs Peter Kruder und Richard Dorfmeister 25 Jahre Zeit gelassen hätten, um endlich ihr – geschmackvoll und schön laid back tuckerndes – Debütalbum von 1995 zu veröffentlichen – und damit nun ein Revival des Downtempo-Trends starten würden. Mehr als Chill-out in der Lounge geht ja eh gerade nicht. (7.5)
Benee – "Hey you x"
Die erste ernst zu nehmende Billie-Eilish-Epigonin kommt aus Neuseeland, klingt aber gar nicht wie ihre grünhaarige Kollegin. Die eher an Lily Allen erinnernde Pop-Single "Supalonely" wurde via TikTok zum viralen Lockdown-Hit und enthielt die zeitgeistige Konsenszeile: "I'm a lonely bitch". Das Debütalbum von Stella Bennett, 20, könnte etwas abwechslungsreicher sein, ist aber "kool" genug. (7.0)
Baby Queen – "Medicine"
"Buzzkill", die erste Single von Bella Latham aus London, klang wie ein Hybrid aus "Loser" und "Royals", aber die 23-Jährige ist keine Spaßbremse. Auf ihrer Debüt-EP gibt sie eine Prom-Queen mit Köpfchen und Gespür für Cringe-Momente. Satirisch und lakonisch singt sie über Anti-Selbstmord-Pillen, Lolita-Gehabe, Onlinedating und Insta-Wahn. Dazu blubbert Powerpop. Hymnisch! (8.0)
Die Toten Hosen – "Learning English Lesson 3: Mersey Beat!"
Diese durch die tote Hose geprügelten Klassiker (Cross-Promotion fürs Campino-Buch) sind lustig. Natürlich können die Düsseldorfer Altpunks weder Eleganz noch Pop-Finesse der frühen Beat-Songs aus Liverpool reproduzieren: Im Beatles-Cover "Slow Down" überwalzen sie jede Geschmacksampel und klingen beim Searchers-Hit "Needles And Pins" so schnöde wie einst Smokie. Very tschörman. (3.0)
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Unterhaltung
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